Ein „Erdbeben“ in Europa

发布时间:2020-07-03浏览次数:169


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Von Wolfgang Röhr

Anfang Mai hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein Urteil gefällt, das in Europa als „Atombombe“ und als „Erdbeben“ bezeichnet wurde. Vielfach wurde es als „Fehlurteil“ gebrandmarkt, das die „europäische Rechtsgemeinschaft zerstören“ könne.

Was ist das Besondere an diesem Urteil?

Das höchste deutsche Gericht hat ein Urteil des höchsten europäischen Gerichts – des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) – als „nicht mehr nachvollziehbar“ und „objektiv willkürlich“ bezeichnet. Ein solches Urteil entfalte keine Bindungswirkung.

Eine solche Entscheidung hatte es noch nicht gegeben. Es war das erste Mal, dass das deutsche BVerfG einer Entscheidung des EuGH die Wirksamkeit absprach.

In den der Urteilsverkündung folgenden Stunden (!) und Tagen stürzte sich eine Vielzahl von Kommentatoren auf das Urteil. Überwiegend waren die Reaktionen ablehnend: Das BVerfG habe einen unlösbaren Konflikt zwischen den beiden Gerichten geschaffen, der letztlich zu einer Schwächung der Europäischen Union (EU) führen müsse. So wie das BVerfG sich von der Rechtsprechung des EuGH lossage, könnten dies nun auch Staaten wie Polen oder Ungarn tun, die wegen der Verletzung des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz und einer Schwächung der Demokratie im Konflikt mit der Europäischen Kommission stünden.

Auch die deutsche Innenpolitik spielte eine Rolle; zwei Bewerber um den CDU-Vorsitz äußerten sich prononciert unterschiedlich: Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Bundestages, Röttgen, bezeichnete das Urteil als fatal; der EuGH müsse das letzte Wort haben. Einer seiner Konkurrenten, der konservative CDU-Politiker Merz, erklärte demgegenüber, die Behauptung, europäisches Recht habe stets Vorrang vor nationalem Recht, treffe nicht zu.

Wer schon einmal bei einer Urteilsverkündung des BVerfG dabei war, weiß, dass die ersten Kommentare vor Kameras und Mikrofonen im Gerichtsgebäude abgegeben oder geschrieben werden, während noch das Urteil verlesen wird. Fast alle Meinungsäußerungen, die unmittelbar auf das Urteil folgten, haben daher eines gemein: ihre Verfasser haben das über 100 Seiten umfassende Urteil gar nicht gelesen. Der Druck auf Journalisten, Kommentatoren, Wissenschaftler und Politiker, sofort eine Stellungnahme abzugeben, macht eine angemessene inhaltliche Auseinandersetzung mit den Urteilen des Gerichts – nicht nur in diesem Fall – nahezu unmöglich.

Wie kam es zu dem Urteil?

2009 hatte sich in der internationalen Finanzkrise gezeigt, dass mehrere Länder der Eurozone nicht mehr in der Lage waren, ihre Staatschulden zurückzuzahlen oder überschuldete Banken zu stützen. In den folgenden Jahren wurde daher eine Reihe von Maßnahmen mit dem Ziel der Unterstützung dieser Staaten getroffen. 2015 beschloss die Europäische Zentralbank (EZB), den Erwerb von Staatsanleihen von Eurostaaten auf dem Sekundärmarkt (Public Sector Purchase Programme, PSPP). Nationale Zentralbanken wie z. B. die Bundesbank und die EZB würden während eines festgelegten Zeitraums solche Anleihen kaufen.

Noch im gleichen Jahr erhoben deutsche Bürger Klage vor dem BVerfG gegen die Bundesregierung und den Bundestag und wandten sich gegen die Beteiligung der Bundesbank an diesem Programm. 2017 legte das BVerfG im Rahmen eines sog. Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH europarechtliche Fragen vor, die es für die Entscheidung dieses Rechtsstreits für wesentlich hält. Dazu gehörte u. a. die Frage, ob die EZB bei der Verabschiedung des Programms mögliche wirtschaftspolitische Auswirkungen der Anleihekäufe – z. B. niedrige Zinsen, Blasen auf den Immobilien- und Aktienmärkten –angemessen berücksichtigt habe.

Die Vorlage solcher Fragen durch nationale Gerichte an den EuGH ist europarechtlicher Alltag. Der EuGH prüft solche Fragen und entscheidet sie; seine Antwort ist für das vorlegende Gericht bindend, das den Fall dann auf der Grundlage des EuGH-Urteils abschließend entscheidet.

Der EuGH stellte im Dezember 2018 fest, dass es keine Gründe gebe, die gegen die Gültigkeit des PSPP sprächen.

Nun hätte man erwarten können, dass das BVerfG die Klage entsprechend der Bindungswirkung dieses Urteils abweisen würde. Das tat es aber nicht. Stattdessen bezeichnete es das EuGH-Urteil als nicht nachvollziehbar und willkürlich und daher nicht bindend. Der EuGH habe verkannt, dass die EZB den im europäischen Recht geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch verletzt habe, dass sie das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP nicht gegeneinander abgewogen habe. Dieser Fehler sei allerdings heilbar: binnen drei Monaten nach der Urteilsverkündung könne die EZB die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nachholen und, wenn sie diese darlege, die Rechtmäßigkeit des PSPP herbeiführen. Das BVerfG forderte Bundesregierung und Bundestag auf, auf eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Liege auch drei Monate nach Urteilsverkündung eine solche Darlegung der Verhältnismäßigkeit nicht vor, dürften deutsche Behörden, auch die Bundesbank, sich nicht mehr an der Durchführung des PSPP beteiligen.

Dass diese Entscheidung so große Aufmerksamkeit gefunden hat, nimmt nicht Wunder: die Bundesbank kann in eine unmögliche Lage geraten. Erfolgt bis Anfang August keine Darlegung der Verhältnismäßigkeit durch die EZB, darf die Bundesbank nach deutschem Recht nicht mehr an der Durchführung des PSPP teilnehmen – ist nach europäischem Recht aber genau dazu gehalten.

Hat das BVerfG mit seinem Urteil recht?

Hierzu gehen die Meinungen weit auseinander. In einer Anhörung des Europaausschusses des Deutschen Bundestages Ende Mai wurde das Urteil von führende Experten durchweg kritisch beurteilt. Für Bundestag und Bundesregierung sei rätselhaft, was das Gericht von ihnen verlange. EZB und Bundesbank seien von Weisungen unabhängig, daher sei unklar, was Bundesregierung und Bundestag denn nun eigentlich machen sollten. Wenn die EZB überhaupt gerichtlich kontrolliert werden könne, dann nur vom EuGH und nicht vom BVerfG.

Häufig wurde darauf verwiesen, dass es Deutschland war, das bei der Gründung der EZB auf deren Unabhängigkeit größten Wert gelegt habe; daher sei es inkonsequent, wenn nun ausgerechnet ein deutsches Gericht ihr Vorschriften machen wolle. In Veröffentlichungen, Reden und Interviews ihrer Mitglieder äußere die EZB sich immer wieder eingehend zu den Gründen für die von ihr getroffenen Maßnahmen; deren Verhältnismäßigkeit sei daher überzeugend dargelegt. Vielfach wurde auch kritisiert, dass das BVerfG die Entscheidung auf so eine „Kleinigkeit“ wie die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gestützt habe, über die sich immer trefflich streiten lasse.

Gleichwohl hat das BVerfG recht. Die zahlreichen kritischen Kommentare gehen denn auch kaum auf die sorgfältige juristische Begründung des Urteils ein, sondern kritisieren vor allem seine europapolitischen Auswirkungen. In der Tat kann man sich fragen, ob es angesichts der Entwicklungen in Polen und Ungarn klug war, die Frage des Vorrangs des EuGH gerade jetzt zu stellen. Auch der Umstand, dass das Urteil zum PSPP genau zu dem Zeitpunkt erging, als das umfangreiche EZB-Programm zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie – das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) – beschlossen wurde, ist unglücklich.

Juristisch ist das Urteil des BVerfG indes unangreifbar. Mit Recht hebt das Gericht darauf ab, dass die EU kein Staat ist, sondern ihre demokratische Legitimation aus den europäischen Verträgen, derzeit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon bezieht. Alle Zuständigkeiten, über die die EU verfügt, müssen ihr von den Mitgliedstaaten, den „Herren der Verträge“, ausdrücklich übertragen werden. An dieser Rechtsauffassung hat das BVerfG niemals einen Zweifel gelassen: Frühere Urteile zum Maastricht-Vertrag von 1993 und zum Vertrag von Lissabon von 2009 sind eindeutig. Die demokratische Legitimation der EU beruht nur auf dem demokratischen Mandat der Mitgliedstaaten. Das Europäische Parlament (EP) kann keine solche Legitimation begründen, denn die Wahlen zu ihm sind zwar allgemein, unmittelbar, frei und geheim, aber nicht gleich: die Stimme des Bürgers eines kleinen Mitgliedstaats wie z. B. Maltas wiegt um ein Vielfaches mehr als die Stimme des Bürgers eines großen Mitgliedstaates wie Deutschlands. Das ist aus politischer Sicht sinnvoll, denn so können die kleinen Mitgliedstaaten im EP angemessenes Gehör finden. Aus rechtlicher Sicht führt es indes dazu, dass das EP die demokratische Legitimation der EU nicht vermitteln kann.

Dieses strenge Abstellen auf die demokratische Legitimation jedes europäischen Handelns ist bei vielen Befürwortern einer fortschreitenden europäischen Integration unbeliebt. Offen oder verdeckt setzen sie sich für eine „Europäisierung“ (engl.: „Europeanisation“) ein, die den Mitgliedstaaten gleichsam durch die Hintertür immer mehr Politikbereiche entzieht und sie der EU unterstellt. Hier zieht das BVerfG jedoch eine rote Linie: Mehr Europa um den Preis von weniger Demokratie dürfe es nicht geben. Wer weitere Bereiche der Politik dem Unionsrecht unterstellen will, müsse dies durch Änderungen der europäischen Verträge tun.

Solche großen Vertragsänderungen hat es jedoch seit über zehn Jahren nicht mehr gegeben; die Politiker scheuen sie, da sie die Befassung der nationalen Parlamente und in einigen Mitgliedstaaten sogar Volksabstimmungen erfordern.

Das Ziehen dieser roten Linie ist das zentrale Anliegen des BVerfG in diesem Urteil. Viele Wissenschaftler, die sich auf die Frage der Verhältnismäßigkeit des PSPP konzentrieren, verkennen dies. Das Nein des BVerfG zum PSPP ist heilbar. Sein Nein zu einer von ihm befürchteten „kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten“ ist demgegenüber auf Dauer angelegt.

Erkennt man das zentrale Anliegen des Urteils im – erneuten – Aufzeigen dieser roten Linie, dann ist es nicht verwunderlich, dass das BVerfG mit der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerade einen Mangel des PSPP in den Mittelpunkt stellt, der relativ leicht überwunden werden kann. So konnte das Gericht seinen Standpunkt – auch gegenüber dem EuGH – deutlich machen, ohne Gefahr zu laufen, größere Verwerfungen in dem von seiner Entscheidung betroffenen Bereich – der Währungsunion – herbeizuführen. Dieser Aspekt wird in der wissenschaftlichen Diskussion zu Unrecht kaum beachtet.

Wie haben Bundesregierung, Bundestag und die EU-Organe auf das Urteil reagiert?

Die Bundeskanzlerin hat eine klare Stellungnahme vermieden und lediglich erklärt, dass eine Erläuterung der EZB weiterführen könne. Ihr Sprecher hat in einer gewundenen Erklärung darauf hingewiesen, das BVerfG habe seiner Auffassung nach nicht die Stellung des EuGH als Hüter der Verträge angezweifelt, sondern lediglich eine sorgfältige Abwägung angemahnt.

Die europäischen Institutionen waren deutlicher: Die EZB erklärte noch am Tag der Verkündung des Urteils, sie nehme es „zur Kenntnis“ und werde weiterhin im Rahmen ihres Mandats alles Erforderliche tun. Der EuGH wies darauf hin, dass er die Urteile nationaler Gerichte „niemals kommentiere“. Seine Urteile seien für das vorliegende Gericht bindend, nur so könne die Einheit des Unionsrechts gewahrt werden. Die Präsidentin der Kommission erklärte, Währungspolitik sei eine ausschließliche Zuständigkeit der EU, und EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht. Die Kommission prüfe weitere Schritte, einschließlich eines formellen Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland.

Wie geht es nun weiter?

Klar ist: Bundesregierung, Bundestag und Bundesbank können das Urteil des BVerfG nicht ignorieren. Andererseits dürfen weder die Bundesbank noch die EZB von der Bundesregierung oder vom Bundestag Weisungen entgegennehmen; dem steht ihre Unabhängigkeit entgegen.

Der vom Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei im EP, Weber, ins Spiel gebrachte Vorschlag eines Kompetenzgerichtshofs, der Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem EuGH und den höchsten nationalen Gerichten schlichtet, würde eine Änderung der europäischen Verträge erfordern; es erscheint unwahrscheinlich, dass es hierzu kommt.

Das schlimmste denkbare Szenario wird nicht eintreten. In diesem weist die EZB unter Verweis auf ihre Unabhängigkeit allfällige Forderungen nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zurück. Die Bundesbank nimmt daher ab August 2020 nicht mehr an den Anleihekäufen teil. Die Europäische Kommission leitet daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland vor dem EuGH ein; der EuGH verurteilt Deutschland wegen vertragswidrigen Verhaltens zu Strafzahlungen. Deutsche Bürger klagen vor dem BVerfG gegen diese Strafzahlungen, durch die sie sich in ihren Rechten verletzt sehen. Das BVerfG gibt ihnen recht und erklärt im Übrigen, dass ohne die von ihm geforderte Prüfung der Verhältnismäßigkeit die Mitgliedschaft Deutschlands in der Währungsunion nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Deutschland tritt daraufhin – auch wenn in den Verträgen gar kein solcher Austritt vorgesehen ist – aus der Währungsunion aus. Hiergegen klagen wiederum deutsche Bürger mit Hinweis darauf, dass man aus der Währungsunion gar nicht austreten könne, wohl aber, wie Großbritannien es gerade vorgemacht habe, aus der gesamten EU ... Weiter wollen wir dieses Gedankenspiel nicht treiben.

Wahrscheinlich ist nach gegenwärtigem Stand z. B. Folgendes: Der Präsident der Bundesbank, Weidmann, übermittelt – ohne in irgendeiner Weise auf das Urteil des BVerfG Bezug zu nehmen, gleichsam „rein zufällig“ – der Bundesregierung und dem Bundestag eine ausführliche Bewertung des PSPP, die dessen Verhältnismäßigkeit darlegt. Das BVerfG lässt daraufhin erkennen, dass die von ihm für die Rechtmäßigkeit des Programms geforderte Bedingung erfüllt ist. Außerdem unterrichtet die EZB das EP über Einzelheiten des neuen PEPP, wobei sie ebenfalls eingehend dessen Verhältnismäßigkeit darlegt: Dies könnte möglichen Klagen aus Deutschland gegen das PEPP entgegenwirken. Die Bundesbank nimmt auch ab August weiter an der Implementierung des PSPP teil.

So wäre der Konflikt zwischen den beiden Gerichten elegant gelöst.

Was aber bleibt, ist die rote Linie des BVerfG: Wer „mehr Europa“ will, kann dies nicht durch die Hintertür bewirken, sondern muss hierfür demokratische Mehrheiten organisieren und die Verträge ändern. Damit läge die Zukunft Europas dort, wohin sie auch gehört: in der demokratischen Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und den Parlamenten – und nicht in den vertraulichen Beratungen der Gerichte.

(Der Autor Wolfgang Röhr ist Senior Research Fellow am Deutschlandforschungszentrum der Tongji-Universität. Von 1978 bis 2014 war er im deutschen Auswärtigen Dienst.)